Autismus – Eine Welt für sich

19.06.2020 CJD BBW Gera « zur Übersicht

Ein sportlicher junger Mann fährt mit seinem Longboard über das Gelände vom CJD BBW Gera. Er lächelt fröhlich und bremst kurz vor einer geselligen Runde von Auszubildenden und setzt sich dazu.

Wenn man Tim Riedel beobachtet, wie er ganz locker mit seinen Freunden über Geocaching und die nächste Mathearbeit spricht, würde man nicht vermuten, dass er eigentlich ein bisschen anders ist, als seine Freunde. Tim hat eine sogenannte Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Im CJD BBW Gera ist er mit dieser Herausforderung nicht allein, denn derzeit hat hier jeder sechste Jugendliche ASS.

Der angehende Elektrogerätezusammenbauer hatte es während seiner Schulzeit nicht immer leicht. Mobbing wegen seiner etwas anderen Art war keine Seltenheit. Doch der junge Mann hat sich in den vergangenen zwei Jahren im CJD BBW Gera unglaublich entwickelt. Er hat an seinen Ängsten gearbeitet, das Vertrauen in sich und Gleichaltrige zurückerobert und den Hänseleien von damals Lebewohl gesagt. Das Team vom CJD BBW Gera und vor allem von der Fachberatung für Menschen mit Autismus-Spektrum Störung verfolgt Tims Entwicklung mit Stolz.

Es gibt viele Experten im Bereich Autismus. Einer von ihnen ist Tim, dem wir ein bisschen auf den Zahn gefühlt haben. In einem Interview beantwortet er unsere Fragen.


Nehmen wir einmal an, Du müsstest einem Kind erklären, was Autismus ist. Wie würdest Du das machen?

Ich könnte es nicht, weil ich dafür keine Worte finde. Es ist nicht so leicht zu erklären, weil es für mich ja selbstverständlich ist, so zu sein.

Wann war Dir klar, dass Du irgendwie die Welt ein bisschen anders wahrnimmst, als andere Jugendliche?

Ehrlich gesagt war mir das nie wirklich bewusst. Ich dachte ich bin normal, wie jeder andere auch, bis ich erfahren habe, dass ich Autismus habe. Ich war ungefähr 14 Jahre, als ich die Diagnose bekommen habe.

Wie hat sich das Anderssein bei Dir gezeigt?

Am Verhalten würde ich sagen. Ich war extrem schüchtern und Augenkontakt mit anderen Menschen war nicht möglich. Außerdem hatte ich auch Angst vor Menschenmassen.

Wie bist Du auf das CJD BBW Gera aufmerksam geworden?

Ich war in einem anderen Berufsbildungswerk und habe ein vorbereitendes Jahr gemacht. Dort bin ich überhaupt nicht zurechtgekommen und es hat mir nicht gefallen. Über die Agentur für Arbeit wurde mir dann glücklicherweise das CJD BBW Gera vorgeschlagen.

Menschen mit Autismus mögen Routinen und gleiche Abläufe. Zu Beginn Deiner Ausbildung war viel neu und ungewohnt für Dich. Wie bist Du damit umgegangen?

Es war erstmal schwer, weil ich niemanden kannte im CJD. Für mich war es sehr ungewohnt, mit so vielen fremden Menschen in einem Internat zu wohnen. Es war das erste Mal für mich im Internat, allein und weg von zu Hause. Am Anfang hatte ich noch große Angst und bin für mich allein geblieben. Und auch die Freizeitgruppen habe ich nicht besucht.

Du lebst und lernst hier im CJD BBW Gera mit vielen anderen jungen Menschen gemeinsam fürs Leben. Was sind für dich persönlich die spannendsten oder wichtigsten Entwicklungen bisher?

Dass ich fast jeden, den ich im CJD kenne, ansprechen kann, ohne Angst zu haben. Weil ich keine Angst mehr habe, andere zu treffen oder mit ihnen zu sprechen.

Gibt es Routinen oder Abläufe in Deinem Alltag, die sich auf keinen Fall ändern dürfen?

Arzttermine, denn die sind meist unangenehm. Ich bereite mich vorher gedanklich darauf vor. Wenn sich dann diese Termine unverhofft ändern, ausfallen oder verschoben werden, bin ich sehr aufgeregt und bekomme Bauchschmerzen.

Wie unterstützt Dich die Fachberatung für Menschen mit Autismus-Spektrum Störung im CJD BBW Gera?

Mit Gesprächen, Übungen, Gruppenarbeit, Rollenspielen, Training in der Kommunikation, Training von sozialen Kontakten, Wahrnehmung von mir selbst und anderen Menschen.

Viele Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten mit Gefühlen wie Freude, Trauer oder Wut in menschlichen Gesichtsausdrücken wahrzunehmen. Sind Mimik und Gestik für Dich wie eine Fremdsprache?

Nein, mittlerweile geht das bei mir auch sehr gut. Das habe ich durch die CJD Autismus-Kompetenzgruppe mit Frau Feder gelernt. Sie kann ganz toll verschiedene Gesichtsausdrücke, Mimik und Gestik, vormachen. Sie kann auch Gefühle mit unseren Worten gut erklären. Und man kann sich auch jede Menge abgucken, wenn man Videos schaut.

Was passiert bei Dir, wenn Dein Gegenüber lächelt?

Ich freue mich, warum auch immer.

In der Fachberatung arbeitest Du oft mit Bilderkarten und Fotos, die dir helfen sollen, entsprechende Kompetenzen anzutrainieren. Wie kann man sich so ein Training vorstellen?

Wir bearbeiten dies gemeinsam in der Gruppe – mit Gesprächen oder in kleinen Rollenspielen. Wir schauen uns die Karten genau an, schauen auf Veränderungen in den verschiedenen Gesichtern (Mund, Augen usw.). Im Projekt „ ICH“ haben wir versucht, uns selbst zu malen und zu beschreiben. Das war ganz schön schwer.

Als eine weitere Herausforderung wird häufig die Unfähigkeit zum Smalltalk genannt. Stimmt das oder ist das eher ein Klischee?

Also ich kann nicht so lange Smalltalk halten, denn irgendwann gehen mir die Fragen aus. Antworten hab ich immer.

Hast du so einen typisch besten Freund?

Ja ich habe einen besten Freund, einen richtig guten Kumpel,. seit mittlerweile fünf Jahren.

Gibt es schon Pläne für die Zeit nach der Ausbildung? Welche Zukunftswünsche hast du?

Ich möchte Solaranlagen bauen und reparieren, das interessiert mich sehr. Und einen schönen Job finden in diesem Bereich. Außerdem möchte ich viele Reisen in die ganze Welt machen. Eigentlich bin ich ein ganz normaler Jugendlicher mit Wünschen, wie jeder andere auch.